Generic selectors
Exact matches only
Search in title
Search in content
Post Type Selectors

„Mann über Bord!” bei Kreuzfahrt: Wie die Chancen auf Rettung stehen und wie Reedereien mit dem Thema umgehen

Durchschnittlich 19-mal jährlich gibt es einen „Mann über Bord“-Alarm auf einem der rund 380 Kreuzfahrtschiffe weltweit: Ein Passagier oder Crew-Mitglied ist vom Schiff aus ins Meer gefallen oder gesprungen und muss gerettet werden. Weil es auf den Schiffen kaum automatische Echtzeit-Erkennung für „Man overboard“-Situationen gibt, dauert es oft sehr lang, bevor die Suche nach der Person im Wasser überhaupt beginnt. Die Chancen zum Überleben sind entsprechend gering. 20 bis 30 Prozent können dennoch gerettet werden.

In diesem Beitrag haben wir Fakten, Studienergebnisse und Statistiken zu Mann-über-Bord-Fällen auf Kreuzfahrtschiffen zusammengestellt und erklären, wie Kreuzfahrt-Reedereien auf den Notfall vorbereitet sind. Außerdem stellen wir die Möglichkeiten vor, wie sich Stürze von Passagieren oder Crewmitgliedern ins Meer automatisch und sofort erkennen lassen würden, um die Zeit zu verkürzen, bis Such- und Rettungsmaßnahmen beginnen können.

Denn in vielen Fällen bleibt es mangels automatischer Erkennungssysteme zunächst unbemerkt, wenn jemand über Bord geht. Erst, wenn die betreffende Person von Mitreisenden, der Crew oder Arbeitskollegen vermisst wird, beginnt die Suche – oft viel zu spät für eine Rettung.

Mann über Bord! – „man overboard!“

„Man overboard!“ ist der internationale Hilferuf, wenn man beobachtet, wie eine Person über Bord geht. Ebenso wichtig: mit ausgestrecktem Arm auf die Person zeigen und sie nicht aus den Augen lassen, während man um Hilfe ruft. Zur Markierung der Stelle – und idealerweise auch als Hilfe für die Person – sollte man auch einen Rettungsring auswerfen.

Denn den Kopf eines Menschen im Wasser aus etwas Entfernung zu entdecken, ist schon eine Herausforderung. Bereits bei niedrigen Wellen ist es extrem schwierig, jemanden wieder zu finden, wenn man ihn oder sie erst einmal aus den Augen verloren hat. Deshalb: „Man overboard“ rufen, auf die Person zeigen und den Posten nicht verlassen, bis professionell trainierte Crew übernimmt.

„Man overboard!“ sollte man übrigens auch auf deutschen Kreuzfahrtschiffen rufen, denn die Crew versteht in den meisten Fällen besser oder zumindest gleichwertig Englisch. Auch Gendern sollte in diesem Zusammenhang hintenanstehen, um in dieser Notsituation unnötige Verwirrung zu vermeiden.

Glück im Unglück hat, wer auf einem der bislang nur wenigen Kreuzfahrtschiffe über Bord geht, die mit einem automatischen Erkennungssystem für „Mann über Bord“-Situationen ausgestattet ist. Dann löst dieses System einen Alarm auf der Brücke aus und die Offiziere können anhand der Überwachungsvideos sofort feststellen, wann und wo genau die Person über Bord gegangen ist.

Vermisste Person auf einem Kreuzfahrtschiff

Die häufigste Situation ist freilich, dass der Sturz ins Meer zunächst unbemerkt bleibt. Wird eine Passagier von Mitreisenden als vermisst gemeldet oder erscheint ein Crew-Mitglied nicht zum Arbeitsbeginn, wird die Person zunächst auf dem Schiff gesucht und gegebenenfalls über das Lautsprechersystem ausgerufen, falls eine Mann-über-Bord-Situation nicht direkt erkennbar ist.

Parallel wird ermittelt, wann und wo die Person zuletzt gesehen wurde, um den Zeitraum des Verschwindens einzugrenzen. Das ist für die Auswertung der Überwachungsvideos wichtig, um möglichst wenig Video-Material durchsuchen zu müssen.

Erst, wenn klar ist, dass Person tatsächlich nicht mehr an Bord ist, wird der Kapitän das Schiff wenden und die Küstenwache informieren. Parallel wird im möglichst bereits zeitlich eingegrenzten Videomaterial nach Hinweisen gesucht, wann die Person über Bord gegangen ist. Daraus lässt sich dann das Suchgebiet bestimmen.

Wie hoch sind die Chancen, nach einem Sturz ins Wasser zu überleben?

Selbst wenn sofort erkannt wird, dass eine Person über Bord gegangen ist, ein Kreuzfahrtschiff viel Zeit und Strecke zum Wenden, bei normaler Geschwindigkeit schonmal 1,5 Kilometer. Schneller sind spezielle Rettungsboote, die jedes Kreuzfahrtschiff hat und in einer solchen Situation zu Wasser lassen kann.

Neben der schwierigen Suche nach einer Person im Wasser sind zwei Faktoren besonders kritisch: Verletzungen, die sich ein Mensch beim Sturz möglicherweise zuzieht, und die Wassertemperatur. Der Aufprall aufs Wasser aus größerer Höhe kann zu schweren Verletzungen oder auch zu Bewusstlosigkeit führen. Und selbst bei moderater Wassertemperatur kühlt der Körper schnell aus, Hypothermie setzt ein.

Mann-über-Bord-Übung in der Arktis
Mann-über-Bord-Übung in der Arktis

Bei etwa 32 Grad Körpertemperatur versagen die Muskeln, sodass man sich ohne Hilfsmittel nicht mehr über Wasser halten kann. Bei etwa 26 Grad verliert man das Bewusstsein und unter 24 Grad Körpertemperatur führt meist zum Tod. Ist das Wasser sehr kalt, kann aber auch ein der Kälteschock kurz nach Eintauchen ins Wasser tödlich sein.

Da Wasser die Körperwärme viel schneller ableitet als Luft, kühlt der Körper viel schneller aus. Bei zehn Grad Wassertemperatur kann die Rettung schon nach 2,5 Stunden zu spät kommen, bei fünf Grad wird es schon nach 30 Minuten kritisch und selbst bei vermeintlich harmlosen 21 Grad hält ein Mensch durchschnittlich nur gut zwölf Stunden im Wasser durch – je nach Konstitution und anderen Rahmenbedingungen. Aber es gibt auch Fälle, in denen Menschen wesentlich länger durchgehalten haben und gerettet wurden.

Dennoch besagt eine von der Branchenvereinigung Clia in Auftrag gegebene Studie, die auf öffentlich bekannt gewordenen „Mann über Bord“-Fällen basiert, dass im Zeitraum von 2009 bis 2019 knapp ein Drittel der über Bord gegangenen Menschen gerettet werden konnte. Eine andere Quelle spricht unter Auswertung der Fälle von 2003 bis 2007 von 21 Prozent Geretteten.

Warum gibt es keine automatischen Erkennungssysteme?

Systeme zur automatischen Erkennung von Mann-über-Bord-Situationen sind ein Thema, über das die gesamte Kreuzfahrtbranche auffällig schweigt. Selbst eine Reederei, die mutmaßlich knapp die Hälfte ihrer Flotte mit solchen Systemen ausgestattet hat, will dies nicht offiziell bestätigen – möglicherweise, um die Konkurrenz nicht zu brüskieren, die zunächst weiter auf nachträgliche Auswertung von Überwachungsvideos setzt.

Aus Reedereikreisen ist inoffiziell aber auch zu hören, dass man Erkennungssysteme getestet und für nicht ausgereift und zuverlässig genug befunden habe, um sie sinnvoll einsetzen zu können. Die Branchenvereinigung Clia hat gegenüber cruisetricks.de auf Anfrage bislang keine Stellngnahme zu dem Thema abgegeben. Wir ergänzen an dieser Stelle, falls sich die Clia dazu noch äußert.

Tatsächlich werden bereits seit einigen Jahren Systeme angeboten, die Video-Überwachung und Wärmebild-Technik so kombinieren, dass sie Mann-über-Bord-Situationen automatisch erkennen und sofort auf der Brücke Alarm auslösen sollen. In einem kurzen Youtube-Video zeigt der Hersteller Puretech, wie so etwas funktioniert:

Mehrere Unternehmen bieten „MOB“-Systeme für Kreuzfahrtschiffe aktuell an, darunter Puretech Systems, Sick Sensor Intelligence und Marss, die aber offenbar noch nicht dem relativ neuen ISO-Standard entsprechen, den es seit 2020 gibt. Die US Coast Guard sagte noch 2020 dem Business Insider, dass ihr (mit Stand 2020) kein System bekannt sei, das diese Standards erfüllen könne.

In den USA gibt seit 2010 auch ein Gesetz, das die Installation von automatischen Systemen zur Erkennung von Mann-über-Bord-Situationen, den „Cruise Vessel Security an Safety Act“. 

Die Formulierung ist allerdings sehr vage: „The vessel shall integrate technology that can be used for capturing images of passengers or detecting passengers who have fallen overboard, to the extent that such technology is available.“ Die US-Küstenwache leitet daraus jedenfalls bislang keine Pflicht zur Echtzeiterkennung ab.

Mit Videoüberwachung, wie es sich auf Kreuzfahrtschiffen ohnehin gibt, lässt sich zwar nachträglich in den meisten Fällen ermitteln, wann und wo eine Person über Bord gegangen ist. Die Auswertung der Videodaten benötigt aber viel Zeit – und startet erst, wenn überhaupt festgestellt wird, dass möglicherweise jemand über Bord gegangen ist.

MSC Cruises hatte 2017 erstmals auf der MSC Meraviglia ein System von Bosch und Hewlett Packard installiert, dass „Mann über Bord“-Situationen automatisch erkennen soll. CEO Pierfrancesco Vago sagte damals: „Unseren Teams ist es gelungen, ein System zu entwickeln, das gleichzeitig genau, stabil und zuverlässig ist.“ Die Genauigkeit des Systems liege bei 97 Prozent, so MSC Cruises damals.

Bis heute ist die Installation solcher automatischen Erkennungssysteme aber lediglich auf der MSC Meraviglia sowie Schiffen von Disney Cruise Line bekannt und zumindest zu einem früheren Zeitpunkt von den Reedereien bestätigt worden.

Wie kommt es zu „Mann über Bord“-Fällen?

Kreuzfahrt-Kritiker Ross Klein stellt in der Washington Post einen Zusammenhang zwischen dem Alkoholausschank (und Alkohol als wichtige Einnahmequelle für viele Reedereien) und Stürzen über die Reling her. 60 Prozent der Fälle stünden in Verbindung mit Alkohol, sagt er.

Eine Studie aus dem „International Journal of Travel Medicine and Global Health“ von 2020 sieht ebenfalls Alkohol als einen der Faktoren, nennt aber keine konkrete Zahl. Weitere wesentliche Faktoren seien Passagiere, die auf die Reling kletterten oder sich auf die Reling setzen würden.

Wie häufig gehen Menschen auf Kreuzfahrtschiffen über Bord?

Der Branchenverband Clia weist in einer Statistik für 2009 bis 2019 aus, dass sich im Jahr 2019 beispielsweise 25 „overboard Incidents“ ereignet hätten, tödlich davon für 13 Passagiere und vier Crewmitglieder, während neun Personen gerettet werden konnten. Im Elfjahresdurchschnitt von 2009 bis 2019 lagen die Zahlen bei 19 Fällen, tödlich dabei für 10,6 Passagiere und 4,8 Crewmitglieder, gerettet wurden durchschnittlich 4,4 Personen. Im Elfjahresdurchschnitt konnten also knapp 30 Prozent der über Bord gegangenen Menschen gerettet werden.

Die für die Clia erstellte Studie wertete öffentlich zugängliche Quellen, insbesondere Medienberichte aus. Nicht öffentlich bekannt gewordene Fälle sind also nicht erfasst.

Statistiken des kanadischen Marktbeobachters Ross Klein

Ross Klein, emeritierter Professor der kanadischen Memorial University of Newfoundland, erfasst seit vielen Jahren die öffentlich bekannt gewordenen sowie ihm aus anderen Quellen bekannten „Mann über Bord“-Fälle. Er hat auch schon einige Bücher zu den Schattenseiten der Kreuzfahrtbranche veröffentlicht.

Schon seit dem Jahr 1995 führt er Buch über Menschen, die auf Kreuzfahrtschiffen und Fähren über Bord gehen und listet jeden einzelnen Fall mit Details und Quellenangaben auf. Er kommt dabei von Anfang 2000 bis Oktober 2023 auf eine Gesamtfallzahl von 339, wenn man Fähren unberücksichtigt lässt.

Studie im „International Journal of Travel Medicine and Global Health” von 2020

Eine Studie aus dem „International Journal of Travel Medicine and Global Health” von Ende 2020 hat die Zahlen und Gründe für alle Arten von Todesfällen auf Kreuzfahrtschiffen im Zeitraum 2000 bis 2019 untersucht.

Dabei stellten die Autoren fest, dass es in diesem Zeitraum insgesamt 623 Todesfälle auf Kreuzfahrtschiffen gab. 23 Prozent davon, also knapp ein Viertel, waren „Mann über Bord“-Fälle: 79 Passagiere und 16 Crewmitglieder in dem 20-Jahre-Zeitraum bis 2019. Hinzu kommen 63 Passagiere und 5 Crewmitglieder, die aktiv über Bord gesprungen sind, also mutmaßliche Suizide.

Diese Studie bezog ihre Zahlen vom „International Cruise Ship Wave Network“, das wiederum auf öffentlich zugängliche Quellen zugreift. Wie hoch die Zahl der Fälle ist, die nicht öffentlich bekannt wurden, lässt sich nicht abschätzen.

WICHTIGER HINWEIS: Es gibt Hilfe, auch in scheinbar ausweglosen Situationen. Wenn Ihre Gedanken darum kreisen, sich das Leben zu nehmen, versuchen Sie unbedingt, mit jemandem darüber zu sprechen, egal, ob Familie, Freunde oder Menschen, die sich auf diese Themen spezialisiert haben. Schnelle Hilfe gibt es bei der Telefonseelsorge (0800/1110111), der „Nummer gegen Kummer“ (116 111), im Notfall auch bei der Polizei (110) und Rettungsdiensten (112).

4 Kommentare

Über den Autor: FRANZ NEUMEIER

Franz Neumeier
Über Kreuzfahrt-Themen schreibt Franz Neumeier als freier Reisejournalist schon seit 2009 für cruisetricks.de und einige namhafte Zeitungen und Zeitschriften. Sein Motto: Seriös recherchierte Fakten und Hintergründe statt schneller Schlagzeilen und Vorurteile, damit sich jeder seine eigene Meinung bilden kann. TV-Reportagen zitieren ihn als Kreuzfahrt-Experten und für seine journalistische Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet. Er wird regelmäßig in die Top 10 der „Reisejournalisten des Jahres“ gewählt und gewann mit cruisetricks.de mehrfach den „Reiseblog des Jahres“-Award.

4 Gedanken zu „„Mann über Bord!” bei Kreuzfahrt: Wie die Chancen auf Rettung stehen und wie Reedereien mit dem Thema umgehen“

  1. Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich eine Meldung von MSC gelesen, dass auch die Seaside-Klasse mit diesem System ausgestattet ist.
    Ich denke, der Grund für das auffällige Schweigen der Reedereien ist, dass sie die Leute nicht zu noch mehr Leichtsinn animieren wollen.

  2. @Iwasoisbessa: Meines Wissens hat MSC Cruises lediglich für die MSC Meraviglia ein solches System offiziell angekündigt/bestätigt. Einen Hinweis darauf, dass auch die Seaside-Klasse damit ausgerüstet wurde, habe ich nicht gefunden und ganz sicher gab es keine Pressemitteilung dazu, denn die habe ich alle archiviert und da ist nichts zu diesem Thema zu finden.

    Deine vermutete Motivation könnte ein Aspekt sein. Allerdings bekommt die Kreuzfahrt bei jedem neuen Mann-über-Bord-Fall so viel negative Presse, weil sie noch immer keine MOB-Erkennungssysteme im Einsatz haben, dass ich das für eher unwahrscheinlich halte. Öffentliches Image ist v.a. den US-Reedereien sehr wichtig, sodass es für die Nicht-Kommunikation zu diesem Thema härtere Gründe geben muss. Aber das ist natürlich pure Spekulation meinerseits.

  3. Hallo Franz,

    Dein Beispielbild mit dem Zodiac der MS Fridtjof Nansen ist nicht ganz passend. So wie auf dem Bild gezeigt, wird es wahrscheinlich gemacht, falls ein Passgier während einer Zodiacfahrt vom Boot fällt. Für den richtigen Notfall gibt es natürlich die MoB Boote, die mit Sicherheit deutlich schneller im Wasser sind als die Zodiacs (hierzu müssten die Klappen an der Seite des Schiffes geöffnet werden, das / die Zodiacs bereitgestellt werden, das Tenderpit zur Verfügung stehen etc..).
    Gruß Jens

  4. @Jens: Schon klar und ich denke, das ist für jeden Leser auch offensichtlich. Es zeigt keine sehr typische Situation, sondern dient halt einfach der Illustration und Auflockerung der „Textwüste“ ;-) Einer Foto einer Mann-über-Bord-Übung von einem großen Schiff hatte ich halt auch schlicht nicht zur Hand, das ist nichts, was man alltäglich fotografieren könnte …

Schreibe einen Kommentar

Hinweis: Neue Kommentare werden aus technischen Gründen oft erst einige Minuten verzögert angezeigt.
WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner