Bei Venedig kochen die Emotionen hoch. Fast jeder war schonmal dort, ist also automatisch Experte und weiß alles ganz genau und vor allem besser. Auch Journalisten-Kollegen. Und dass die Kreuzfahrt prinzipiell böse ist, glaubt inzwischen auch jeder ganz sicher zu wissen. Venedig und Kreuzfahrt in Kombination? Da rückt der Untergang des Abendlandes schon ganz nahe.
Verliert ein italienischer Verkehrsminister, der den Job nach der nächsten Regierungskrise vermutlich eh‘ nicht mehr hat, ein paar Sätze über die Verlegung von Kreuzfahrtschiffen von Venedig hin zum Festland, ist in der Berichterstattung die Kreuzfahrt in Venedig schon gelaufen. Dabei kann man schon gar nicht mehr zählen, wie oft in den vergangenen Monaten und Jahren solche Ankündigungen gemacht wurden. Und nie ist danach irgendetwas Substanzielles geschehen.
Schreibt der aus Venedig stammende Präsident der North Adriatic Sea Port Authority, Pino Musolino, einen Brief an seine Kollegen in anderen großen Kreuzfahrt-Hafenstädten, machen besonders eifrige Medien daraus gleich das Ende der Kreuzfahrt in ganz Europa (TZ).
Update 2. April 2021: Der jüngste Beschlus von vier Ministern sowie ein Ministerratsbeschluß der italienischen Regierung Ende März und Anfang April 2021 könnten die Situation in der Tat nachhaltig verändern. Kreuzfahrtschiff über BRZ 40.000 werden temporär nach Marghera umgeleitet, eine Dauerlösung soll schnell gefunden werden und die soll sogar Containerschiffe in der Lagune von Venedig mit umfassen.
Update Juli 2021: Inzwischen wurde sogar ein Verbot für Schiffe größer als 25.000 BRZ beschlossen, das bereits seit 1. August 201 gilt.
Nach meiner Meinung jetzt die Fakten
Sie merken, das ist kein normaler cruisetricks.de-Beitrag. Jedenfalls nicht bis zu dieser Stelle. Wenn man die Berichterstattung zur Kreuzfahrt im allgemeinen und Venedig und die Kreuzfahrt im Speziellen schon länger beobachtet, reibt man sich immer wieder verwundert die Augen, wie wenig Fakten dabei eine Rolle spielen und wie Falsches, aber vermeintlich allseits Bekanntes ungeprüft wiederholt wird.
Bevor ich zu den Fakten komme, ein Blick auf die Stadt, über die wir sprechen: Ein Zeitraffer-Video zeigt die Einfahrt nach Venedig, übrigens von einem sehr kleinen Schiff aus, nämlich der L’Austral von Ponant. Das Video zeigt insbesondere auch die komplette Route, die Kreuzfahrtschiffe vorbei am Markusplatz und entlang des Giudecca-Kanals zum Kreuzfahrtterminal nehmen:
Im Beitrag „Venedig, die schönste Stadt der Welt“ habe ich Fotos und ein 360-Grad-Panoramabild vom Markusplatz zusammengestellt, die Venedig früh morgens vor dem großen Touristen-Andrang zeigen. Das ist die Stadt, die es zu schützen (oder zu retten) gilt.
Von hier an wechsle ich zu den Fakten und möchte die Kritikpunkte und Probleme der Kreuzfahrt in Venedig zusammenfassen. Denn Venedig und die Kreuzfahrt – das ist ziemlich kompliziert …
Warum haben die Venezianer ein Problem mit Kreuzfahrtschiffen?
In Zusammenhang mit der Kreuzfahrt werden in Venedig viele Aspekte diskutiert und kritisiert – meist ziemlich durcheinander und wenig zielführend. Emotionen und Fakten werden vermischt, Kreuzfahrt-spezifische mit allgemeinen Tourismus-Problemen durcheinander geworfen.
Für eine sinnvolle Lösung sollte man mindestens fünf Aspekte voneinander trennen: Overtourism, Luft-Schadstoffe, Schäden an den Gebäuden, Umweltschäden in der Lagune von Venedig und die optische Störung des Stadtbildes während der Ein- und Ausfahrt der Schiffe.
Ob wenige Minuten pro Tag ein Stadtbild derart stören, dass man deshalb die Schiffe aus diesem Grund aus der Stadt verbannen muss, will ich nicht weiter kommentieren.
Zu den übrigen Themen gibt es viele Studien und wissenschaftliche Untersuchungen. Wer sich in die einzelnen Themen tiefer einlesen will (und Italienisch versteht), findet dazu eine Link-Liste auf der Website des Hafens von Venedig.
Ist die Kreuzfahrt Schuld am Overtourism in Venedig?
Fünf bis sechs Prozent: so hoch ist der Anteil der Kreuzfahrer an der Gesamtzahl der Touristen in Venedig. 1,6 Millionen von insgesamt rund 30 Millionen jährlich.
Würde man die Kreuzfahrt in Venedig gänzlich eliminieren, blieben immer noch 28,4 Millionen Touristen übrig. Weder die Gentrifizierung der Stadt würde gestoppt, noch wären nennenswert weniger Touristen unterwegs. Die Flugzeuge würden weiterhin ganz in der Nähe landen, der Öl- und Industrie-Hafen am nahen Festland würde weiterhin Schadstoffe in die Luft blasen, Fähren, Wassertaxis und Privatboot weiterhin an der Bausubstanz für Wellenschlag in den Kanälen sorgen.
Viel zum Thema Overtourism habe ich bereits in meinem Beitrag „Tourists go home: Wenn Städte vor Massentourismus und Overtourism“ ausgeführt, sodass ich das hier nicht wiederholen muss. Nur ein wichtiger Aspekt noch dazu: Overtourism läßt sich nicht lösen, indem Städte oder Regionen die Touristenmassen passiv über sich ergehen lassen und stöhnen. Nur mit aktivem Tourismus-Management, gezieltem Steuern von Touristenströmen und klaren Zielen besteht die Chance, dem Problem beizukommen. Zwei von Kreuzfahrtschiffen stark frequentierte Städte, Dubrovnik in Kroatien und Bergen in Norwegen, gehen derzeit erste Schritte hin zu einem aktiven Tourismus-Management, erste Erfolge sind dort bereits spürbar.
Kreuzfahrt-Touristen belasten die Stadt, bringen aber kein Geld?
In Zusammenhang mit Overtourism wird immer wieder argumentiert, dass Kreuzfahrt-Tourismus besonders schädlich sei, weil zwar lokale Belastungen entstünden, die lokale Wirtschaft aber nichts an den Kreuzfahrt-Touristen verdiene – weil die ja an Bord all-inklusive genießen und kein Geld an Land ausgeben.
Wie falsch dieses Vorurteil ist, habe ich im Beitrag „Bringen Kreuzfahrt-Touristen Geld in die Hafenstädte? Oder belasten sie nur?“ bereits dargestellt und auch für Venedig gibt es dazu konkrete Fakten, die ich hier nicht wiederholen muss. Weil Venedig nicht nur ein kurzer Zwischenstopp auf Kreuzfahrten ist, sondern vor allem als Start- und Zielhafen dient, verdient die lokale Wirtschaft sogar vergleichsweise viel an den Kreuzfahrttouristen.
Schäden an der fragilen Bausubstanz in Venedig?
Gerne wird argumentiert, die Wellen der vorbeifahrenden Kreuzfahrtschiffe würden die Bausubstanz der Gebäude in Venedig schädigen.
Jedenfalls sind es nicht die Wellen, welche die Gebäude gefährden, obwohl das häufig geschrieben wird. Kreuzfahrtschiffe fahren in der Lagune so langsam, dass sie keine nennenswerten Wellen verursachen – anders als die schneller fahrenden Vaporetti, Wassertaxis, Fähren, Frachtboote und private Boote, die auch in den Canal Grande und die vielen, engen Seitenkanäle einfahren, während die Kreuzfahrtschiffe ausschließlich am 12 bis 17 Meter tiefen und bis zu 300 Meter breiten Giudecca-Kanal unterwegs sind.
Zudem wurde vor einigen Jahren der Schiffsverkehr in Venedig deutlich dereguliert. Seitdem dürfen viel mehr Privatboote auf den Kanälen fahren, die dort vorher verboten waren.
Gebäudeschäden könnten allerdings durch die Sogwirkung entstehen, die durch die enorme Wasserverdrängung der großen Schiffe entsteht. Allerdings ist eine Auswirkung auf die Bausubstanz der Häuser längst nicht so eindeutig, wie man es annehmen könnte. Studien, die sich mit Vibrationen, Wellenbildung und Wasserverdrängung durch die Schiffe beschäftigen, kommen zu keinem klaren Ergebnis – auch weil Strömungen durch Ebbe und Flut und andere Faktoren ähnliche Auswirkungen haben, sodass eine klare Zuordnung in den Untersuchungen nicht möglich war.
Die Einflüsse auf die Bausubstanz in Venedig – und die vielfachen Ursachen auch außerhalb der Kreuzfahrt-Problematik – stellt ein Beitrag bei Spiegel Online vom Dezember 2013 recht übersichtlich dar: „Überschwemmungen in Venedig – Flut der Kreuzfahrtschiffe“. Wer sich genauer für die Bauweise in Venedig interessiert, findet bei Passenger on Earth einen ausführlichen Beitrag dazu: „Venedig – Ist die ganze Stadt auf Pfählen gebaut?“. Die am Ende des Beitrags hergestellten Zusammenhänge mit Kreuzfahrtschiffen sind dagegen eher zweifelhaft.
Schäden für das Ökosystem der Lagune
Eindeutig sind dagegen andere Schäden, die durch die Wasserverdrängung großer Schiffe in der Lagune von Venedig entstehen. Allerdings betrifft das gleichermaßen die Kreuzfahrtschiffe wie die zahlenmäßig rund dreimal so vielen Frachtschiffe und Öltanker in der Lagune auf der Route entlang des Festlandes nach Marghera.
Eine umfangreiche, hydrologische Untersuchung von 2017 zeigt sehr deutlich die Auswirkungen großer Schiffe. Kurz und vereinfacht zusammengefasst: Der durch die Verdrängung der Schiffe entstehende Sog führt dazu, dass in großem Umfang Sand und Schlick aus der Lagune in die Adria abgetragen und die Lagune dadurch immer tiefer wird. Außerdem werden Schadstoffe vom Boden aufgewirbelt und schädigen so das fragile Ökosystem der Lagune.
Das ist ein kompliziertes, eigenes Thema für sich und soll hier nicht detaillierter ausgeführt werden. Es betrifft Kreuzfahrtschiffe, Öltanker und Frachtschiffe gleichermaßen und würde sich durch die Verbannung allein der Kreuzfahrtschiffen aus der Lagune nicht beheben lassen. Um hier deutliche Veränderungen herbeizuführen, wäre eine Verlegun sämtlicher großer Schiffe, Kreuzfahrt- wie Frachtschiffe und Öltanker aus der Lagune nötig.
Belastung durch Luftschadstoffe
Eine Studie aus dem Jahr 2011 (inzwischen nicht mehr online abrufbar) zeigt, dass die Belastung mit Feinstaub, Stickoxiden und Schwefeloxiden durch die Kreuzfahrtschiffe in dem untersuchten Jahr einen Anteil von 20 bis 26 Prozent der Belastung durch den gesamten Schiffsverkehr ausgemacht haben. An der Gesamtbelastung der Luftqualität in Venedig insgesamt haben Passagierschiffe (inklusive Fähren) demnach beispielsweise bei der Feinstaubbelastung einen Anteil von 12 Prozent.
Diese Beispiele aus der Studie zeigen vor allem, dass eine Verbannung der Kreuzfahrt aus Venedig keineswegs zu einer drastischen Verbesserung der Luftqualität führen würde. Dennoch: Eine zusätzliche Belastung durch die Kreuzfahrtschiffe ist vorhanden und messbar, wie auch andere Studien (PDF-Link) zeigen.
In Venedig gibt es in Hinblick auf Luftschadstoffe ohnehin noch eine besondere Situation. Denn schon seit 2007 gibt es hier das Blue-Flag-Abkommen zwischen Stadt und fast allen Kreuzfahrtschiff-Reedereien, das deutlich niedrigere als die gesetzlich eigentlich erlaubten Emissionen vorsieht.
Neues Terminals, andere Fahrtrouten in Venedig: eine endlose Geschichte …
Der Protest gegen große Schiffe und damit auch Kreuzfahrtschiffe formierte sich 2007 erstmals deutlich mit „Ambiente Venezia“. Die heute sichtbarste Aktivistengruppe, „No Grandi Navi”, gründete sich 2012.
Wichtig ist dabei zu wissen, dass No Grandi Navi sich mit ihren Forderungen keineswegs nur auf Kreuzfahrtschiffe beschränkt, auch wenn die Proteste gegen die Kreuzfahrtschiffe deutlich mehr öffentliche Aufmerksamkeit erzeugen. Der Protest richtet sich vielmehr gegen alle Schiffe größer als 40.000 BRZ in der gesamten Lagune, insbesondere also auch gegen Frachtschiffe und Öltanker im Kanal von Chioggia nach Marghera.
Im Laufe der Jahre wurden verschiedenste Lösungsvarianten für das Problem diskutiert, von praktikablen Kompromissen bis hin zu futuristischen Offshore-Terminals außerhalb der Lagune. Im September 2017 wurde auch eine Studie veröffentlicht, die zahlreiche Varianten gesamtheitlich bewertet und sowohl Ökologie wie auch Ökonomie mit einbezieht: „Analisi multicriteria delle alternative la crocieristica a Venezia“ (PDF-Link).
Vermeintlich ganz konkret waren Pläne nach einem Dekret von 2012 im Gespräch, das Schiffen mit mehr als 40.000 BRZ die Fahrt durch den Giudecca-Kanal verbietet, sobald es Alternativrouten gibt.
Dann kam ein Dekret, nach dem von Januar 2014 an keine Schiffe größer als 96.000 BRZ mehr durch den Giudecca-Kanal fahren durften, das aber ziemlich schnell, nämlich im Juni 2014, von einem Gericht wieder ausgesetzt wurde, dann erneut erlassen und erneut von einem Gericht gestoppt wurde.
2014 wurde ein Projekt der Hafenbehörden ins Auge gefasst, bei dem der Kanal Contorta Sant’Angelo zwischen Marghera und der Stazione Marittima in Venedig ausgebaggert werden sollte. Das Verwaltungsgericht der Region Venetien stoppte dieses Projekt 2015.
Es folgte der Plan, den Kanal Vittorio Emanuele III auszubaggern, der bis heute als favorisiert gilt, aber große Bedenken bei Umweltschützern auslöse, weil sich durch eine Ausbaggerung des Kanals die Strömungsverhältnisse in der Lagune verändern würden.
2016 meldete sich die Unesco zu Wort und drohte Venedig mit Entzug des Weltkulturerbe-Status, falls nicht bis 2017 konkrete Maßnahmen zum Schutz der Stadt ergriffen würden.
2017 gab es einen Plan, Schiffe größer als 55.000 BRZ nach von Chioggia aus nach Marghera zu leiten und auch der Neubau eines Kreuzfahrt-Hafens außerhalb der Lagune wurde in Erwägung gezogen. Letzteres wird von No Grandi Navi als sinnvolle Lösung bevorzugt.
Befeuert jüngst durch einen Unfall und einen Beinahe-Unfall wurden erneut Alternativ-Routen diskutiert, alte Pläne wieder ausgegraben, und Ankündigungen gemacht.
Tatsächlich geschehen ist aber bis heute (Stand: Juni 2020) nichts. Zumindest nichts, was über Arbeitsgruppen, Studien, Planungen und Gerichtsprozesse hinausgeht. Wir berichten weiter …
Klasse Zusammenfassung, danke!
Nichtstun bringt nichts, die von den Verantwortlichen angekündigten Fortschritte imitieren nur die eifrige Arbeit.
Eine Lösung, die für alle Parteien zufriedenstellend wäre, wird es sowieso nicht geben: zu unterschiedlich sind die Interessen..
Grüße aus Ungarn,
Laszlo
Grundsätzlich merkt man, dass die Menschen schlichweg undankbar sind. Was interessiert mich mehr, die Venezianer oder das Wohl von Arnold Donald, Richard Fail & Co. Granz klar zweiteres. Sind die besseren Menschen und haben mein Leben bereichert.
Daran sieht man den fehlenden politischen Willen. Die Diskussion gibt es bereits seit sehr vielen Jahren.
Ich bin nun wirklich kein Experte,auf ein Blick auf google Maps sagt mir,das es möglich sein sollte,an den bisherigen Einfahrten in die Lagune einen entsprechenden Kreuzfahrthafen zu bauen,ohne allzu viel Landschaft zu zerstören bzw. Menschen zu belästigen.Die Japaner bauen ganze FLughäfen im Meer.Dann sollte ein Hafen nicht das Problem sein.
Wenn man 2-3 Jahre Planungszeit berechnet(also genauen Standort,Anhörung der Anwohner und dann entscheidung) und ca. 5-9 Jahre Bauzeit, dann könnte man in 2-3 Jahren einen schönen hafen außerhalb der Lagune haben und das Problem wäre gelöst. Dann hat man zwar nur 2-3 % weniger Touristen(denn die Hälfte der 6% Kreuzfahrttouristen wird wahrscheinlich trotzdem in die Altstadt gehen),aber man hätte immerhin etwas bessere Luft und weniger EInfluss auf die Bausubstanz und das Ökosystem der Lagune. Das Problem mit den Frachtschiffen in Maghera bliebe zwar immer noch,aber einen Hafen dieser Größe samt Infrastruktur wird man nicht außerhalb der Lagune verlegen können.
Vielleicht sollte man noch erwähnen, dass im Rahmen der Planung von 2017 für Verbindung zwischen der Anfahrtroute nach Marghera und der Stazione Marittima, ca. 30 Millionen Euro an Steuergeldern bereitgestellt wurden. Ein Großteil davon versickerte in dunklen Kanälen, ohne dass auch nur ein Kilo Sand bewegt wurde, und ist bis heute nicht mehr aufgetaucht. Ein ähnliches Spiel gab es ja schon mal mit der Sturmflutwehr für die Lagune (Projekt MO.S.E.): Von den 5,5 Mrd. Baukosten ist 1 Mrd. im Laufe der Bauzeit „verschwunden“…
Das ist meines Erachtens ein Grund für das ständige hin und her mit den Projekten: Mit jedem Neustart eines Projektes ergeben sich neue Chancen etwas abzuzweigen. Daher gibt es Kreise, die gar kein Interesse an einer Lösung haben (und am Wohl der Einwohner von Venedig ohnehin nicht).
Moin! Erstaunlich, dass auch im wirtschaftlich recht erfolgreichen Norditalien offenbar mafiöse Strukturen höchst aktiv und kaum zu bremsen sind. Wen wundert es, dass es bei der Mafia stets nur um Geld und nicht um den Schutz der Umwelt geht? Studiert man die aktuelle Printausgabe des SPIEGEL mit seinem Titel „S.O.S. Wahnsinn Kreuzfahrt – die dunkle Seite des Traumurlaubs“ und auch die Website „Spiegel Online“ („Kritik an Kreuzfahrt-Reedereien: gesellschaftlich nicht mehr vertretbar“), dann scheint hier ein idealer Sündenbock für quasi alles gefunden, was man als Umweltproblem identifizieren kann. Übertourismus, Ausbeutung, Wohnungsmangel in den Hafenstädten, Luftverschmutzung… am liebsten noch Plastik im Meer und Überfischung, was kann man der Kreuzfahrt mit ihren 400 hochseetauglichen Schiffen nicht alles anlasten, und von mehr als 90.000 Frachtern für Flüssiggüter, Schüttgut und Container spricht niemand.
Zur Zeit wird ohnehin in einem beispiellosen Stakkato jede Woche eine neue Umweltsau durchs mediale Dorf getrieben. Mal die Bahn, dann Landwirtschaft, unser Fleischkonsum, dann Plastikverpackungen, das Flugzeug, das Reiseverhalten im Allgemeinen und Besonderen, Kohleverstromung, Autoverkehr – ach, und heute sind gerade Plastiktüten (außer der Kreuzfahrt) sehr en vogue. Und immer wieder der Hinweis auf die „Eigenverantwortung“ und „jeder kann etwas tun“ und natürlich „jedes kleine Bisschen hilft“. Nein, tut es nicht. Bei den essenziellen Fragen kann Freiwilligkeit und Gutes Zureden keine Lösung sein, das weiß eigentlich auch jeder. Ob wir uns beim Autofahren anschnallen, Mord und Totschlag ächten oder es verbieten, unseren Müll in die Landschaft zu kippen, all dem liegen Gesetze zu Grunde, keine Appelle an Einsicht und Vernunft. Und das kann beim Schutz von Umwelt und Klima nicht anders sein.
Wenn es um die Abkehr von lieb gewonnenen Gewohnheiten geht und einem vermeintlichen „Lebensstandard“, dann wird es zwangsläufig emotional. Mindestens drei Viertel der Weltbevölkerung würden gern unsere Aufregerthemen übernehmen – sie können unser Leben im Luxus und Sicherheit sich nur herbeiwünschen, erreichbar wird es nie. Wie es gelingen kann, einen Konses im Kleinen (z.B. Venedig betreffend) bis zum Großen (die Rettung unserer Lebensgrundlagen), ist mir nur schemenhaft klar: es kann nur mit intensivem Dialog funktionieren. Da wird eine Aufregersendung bei Phoenix allein nicht genügen.
Übrigens liest man gerade, dass die Zahl der vorgeschriebenen Rettungsboote bald reduziert werden könnten, um mehr Platz für Balkonkabinen auf Schiffen zu ermöglichen. Ersatz sollen Rettungsinseln und -flöße bringen. Ist da was dran?
„Würde man die Kreuzfahrt in Venedig gänzlich eliminieren, blieben immer noch mindestens 23,4 Millionen Touristen übrig.“
Es blieben noch mehr übrig, denn viele dieser Touristen würden trotzdem Venedig besuchen. Die Anreise erfolgt dann eben mit einem anderen Verkehrsmittel.
Wie wurden diese Touristenzahlen eigentlich berechnet? Ist das die Zahl der Personen, die Venedig in einem Jahr besucht haben? Oder die Anzahl der Tagesaufenthalte (Menschen mit 2 Hotelübernachtungen würden dann drei Mal erfasst; Kreuzfahrer, deren Reise in Venedig beginnt und endet zwei Mal)?
Ich stimme Knud zu: Würde man die Kreuzfahrtschiffe statt Venedig in einen anderen Hafen schicken – ungeachtet der Frage, ob das logistisch (Liegeplätze, Flughafenkapazität, etc.) überhaupt geht – , z.B. Chioggia oder Triest, dann würden die Reedereien eben Tagesausflüge dort hin anbieten.
Selbst die Fahrzeit (Triest-Venedig ca. 2 Std) würde die Gäste kaum abschrecken, wie die beliebten Exkursionen nach London (von Southampton/Portsmouth/Dover ca 2 Std), Berlin (von Warnemünde 3 Std) oder Marrakesch (von Casablanca 3 Std) zeigen.
@Knud: Die jährliche Besucherzahl ist einer echt schwammige, weil es wohl keine richtige Erfassung der Besucher der Stadt gibt; die 25 bis 35 Millionen ist also die ungefähre Bandbreite, die sich aus verschiedenen Angaben aus unterschiedlichen Quellen ergibt. Gemeint sind aber nicht die Übernachtungszahlen, sondern tatsächlich einzelne Besucher, die ggfs. auch mehr als einen Tag in der Stadt bleiben.
@Volker: nur in aller Kürze, weil es thematisch hier nicht ganz reinpasst – ich habe die Rettungsboot-Diskussion in letzter Zeit nicht genauer verfolgt, auch weil es sich wiedermal um eine dieser Scheindiskussionen handelt. Moderne Rettungsinseln und zugehörige Rettungssysteme haben im Vergleich zu Rettungsbooten durchaus ein paar handfeste Vorteile, sodass man sich gedanklich einfach von den Titanic-Ruder-Rettungsbooten lösen sollte ;-) Insel-Systeme sind bei der Evakuierung sicherer und zuverlässiger – erinnern wir uns nur an Costa Concordia, wo wegen der Schräglage des Schiffs die Boote kaum oder gar nicht zu Wasser gelassen werden konnten – was helfen mir da viele Boote? Rettungsboot klingt schön bequem und komfortabel im Vergleich zu einer Rettungsinsel, aber um Komfort geht es bei einer Rettung nicht, sondern ums Überleben und da haben die Inselsystem mehr Vor- als Nachteile.
Hallo, Franz! Die Aufgeregtheit finde auch ich reichlich unangebracht bezüglich dieser Angelegenheit, aber so sind sie nun mal: vor allem jene, die nie einen Fuß auf ein Passagierschiff setzten, meinen überall die Mega-Katastrophe à la Titanic heraufziehen zu sehen. Dass wir aber jedes Jahr mehr Menschen auf unseren Straßen Opfern, weil auch alle Raser, Alkoholisierten und sonstige PS-Junkies kreuzgefährliche Transportmaschinen bewegen dürfen, ist völlig egal und wird als notwendiges Übel akzeptiert. Auch in meinem Metier, der Fliegerei, erlebe ich immer wieder haarsträubende Aussagen bezüglich der Flugsicherheit, was mich zu der Erkenntnis bringt „Ganz viel Meinung, aber ohne jede Spur von Ahnung“. Gerade bei Spiegel Online werden aktuell über Kabinenbesatzungen in die üblichen Klischees ausgewalzt („Lange Haare, Dutt und Hütchen…“).
Das Problem mit der Schlagseite hatte ich dabei auch im Kopf. Auf modernen Schiffen sah ich inzwischen Rettungsmittel, die in riesigen kastenförmigen Containern auf dem Rettungsdeck standen, gigantische schwimmende Plattformen enthielten, Zugang über eine Art Rettungsstrumpf, durch den man hinunterrutscht.
Was vielleicht mal ein Podcast-Thema sein könnte, wäre „Sinn und Zweck der Klima-Kompensation“. Wieder ein Umweltthema, weil es gerade so gut in die politsiche Landschaft passt. Konkret fällt mir da aktuell ein Reisebüro auf, vorn mit M, hinten mit O, das damit wirbt, dass die Klimakompensation für jede Reise „geschenkt“ werde, weil Gelder von der Vermittlungsprovision über Myclimate weiter gereicht werden. Ich frage mich: welches Reisebüro kann auf relevante Teile der Provision verzichten und was bedeutet es, Kunden zu suggerieren, dass sie nun 100% „klimaneutral“ auf Kreuzfahrt gehen können? Das Büro tritt auch als Sponsor für die Sonntags-Videos von Matthias M. auf. Viele Grüße!
@Volker: Das Klimakompensation-Thema ist schon in Planung :-)
„welches Reisebüro kann auf relevante Teile der Provision verzichten und was bedeutet es, Kunden zu suggerieren, dass sie nun 100% „klimaneutral“ auf Kreuzfahrt gehen können?“
Früher haben die Reisebüros einige Prozente als Werbung geopfert, indem sie Rabatte/Rückerstattungen angeboten haben. Das ist aber inzwischen schwieriger geworden, weil die Reiseunternehmen das nicht wollen. Teilweise wird dagegen sogar schon gerichtlich vorgegangen. Also werden die Prozente jetzt anders verpackt („geschenkte Klimakompensation“ statt „Rabatt auf den Reisepreis“) und treffen damit sogar noch den Zeitgeist.
Im Endeffekt steckt dahinter immer die Grundrechnung jeder Art von Werbung: Man verzichtet an einer Stelle (Prozente) auf etwas Geld, in der Hoffnung, dass an einer anderen Stelle (mehr Kunden) mehr hereinkommt.
Moin, Carsten! Ja, solche Angebote sind mir auch schon mal begegnet. Mit Bordguthaben, oder es war ein Getränkepaket mit drin. Offenbar scheinen die Provisionen für Reisebüros auskömmlich zu sein, was jedem Vermittler von Herzen gegönnt sei. Auf lange Sicht, wenn es um den Kampf gegen den Klimawandel auf globaler Ebene geht, wird das Konzept des „Kompensierens“ nicht aufgehen, fürchte ich. Die Intention ist klar: ich zahle etwas oder jemand anderes zahlt für mich (wie in diesem konkreten Fall), und ich muss zum Glück meinen Lebensstil nicht verändern. Bequem und gewissensberuhigend! Da wird hier ein Baum gepflanzt (ohne zu wissen, ob sich selbiger in wenigen Jahren wieder als Brennholz zurück in die Atmosphäre begibt) und dort ein Solarofen gespendet, ohne zu wissen, ob der Beschenkte sich nicht schon zuvor sehr klimaneutral verhielt. Der Kampfbegriff des „modernen Ablasshandels“ trifft bei solchen Aktionen vermutlich ziemlich genau den Punkt, denn sie gaukeln vor, es ginge komplett ohne eine massive Reduzierung beim Konsumverhalten – und das wird nicht klappen. Die Sägezahnkurve beim CO2 wird von der NOAA auf dem Mauna Loa mit weiteren Rekordwerten von sich reden machen. Zum Frühlingsbeginn 2020 können wir mit 419 ppm rechnen, schätze ich – vielleicht sogar noch mehr, aufgrund der massiven arktischen Waldbrände in diesem Sommer.
Ich bin gespannt, wie sich die Kreuzfahrtbranche in den kommenden Jahren positioniert. Da die meisten den Wandel hinzu alternativen Antrieben noch nicht einmal angedacht haben, wenn ma von Costa und Aida einmal absieht, und sogar weiter auf Schweröl setzen, könnte der politische Druck in kurzer Zeit massiv steigen. Das Order Book der Werftindustrie zeigt bis 2027 etwa 140 Neubeuten, wegen der noch verfügbaren Slots ab 2023 könnten es sogar an die 200 neue Schiffe werden, was bei einer kaum wahrnehmbaren „Abwrackquote“ ein 50%-Wachstum bedeuten würde. Vielleicht erreicht die Branche dann einen Sättigungspunkt mit ersten Stagnations- oder gar Schrumpfungsprozessen? Es dürften spannende Zeiten werden…
Danke für diese konkreten Einblicke.
Auch ich als passionierter Kreuzfahrer sehe die Probleme die Kreuzfahrtschiffe verursachen und das nicht nur in Venedig, aber speziell auch dort.
Schon als ich das erste Mal in Venedig zu einer Kreuzfahrt gestartet bin, ist mir aufgefallen, dass die kleineren Schiffe, die viel schneller durch den Giudecca-Kanal fahren, erhebliche stärke Wellen verursachen, als die großen Schiffe (jedenfalls die sichtbaren an der Oberfläche, was unter Wasser geschieht, kann ich nicht beurteilen).
Michael Engel von Michelanglos-Reiseerinnerungen (https://michelangelosreiseerinnerungen.blogspot.com/)
Ich habe ja zunehmend das Gefühl, dass hier ein Sündenbock für alles gesucht wird. Wenn man keinen Verursacher findet, dann sind es eben die Kreuzfahrtschiffe.
Jedenfalls bestätigen mich die Ereignisse der letzten Jahre darin, dass es den (Kreuzfahrt-)Konzernen schlichtweg an Lobbyeinfluss fehlt. Ansonsten würde es gar nicht so weit kommen. Dieser Anti-Kreuzfahrt-Wanhsinn muss gestoppt werden.